Komjáthy Miklós: Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (1914–1918) (Magyar Országos Levéltár kiadványai, II. Forráskiadványok 10. Budapest, 1966)
Einleitung: Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates und seine Tätigkeit während des Weltkrieges
Die im Juli 1914 abgehaltenen Konferenzen des höchsten Regierungsorgans der Monarchie bzw. die mit diesen Konferenzen zusammenhängenden Ereignisse spielen in der Entfesselung des die ganze Welt erstmals in Feuer und Flammen stürzenden Krieges keine größere Rolle als der Druck auf einen Knopf, der ein mächtiges Kraftwerk in Gang setzt, und auch Außenminister Berchtold hat keine größere Rolle als der auf den Knopf drückende Ingenieur. Ebenso wie hinter dem Knopf und der das ganze Kraftwerk in Gang setzenden, auf den Bruchteil einer Sekunde beschränkten Arbeit des Ingenieurs der komplizierte Mechanismus des Kraftwerkes und Jahre und Jahrzehnte der diesen Mechanismus zustandebringenden persönlichen und gesellschaftlichen Arbeit stehen, so ist auch die Tat Berchtolds in das Gewebe der in einer jahrzehntelangen Entwicklung herausgebildeten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen Verhältnisse der Monarchie, ja teilweise Europas eingebettet. Die Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates, ja auch die Enunziationen und das Handeln Berchtolds und seiner an den Konferenzen teilnehmenden Ministerkollegen sind ein eigenartiges Produkt dieser Verhältnisse. Bevor wir die Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates und die Rolle der Mitglieder des Ministerrates im Weltkriege untersuchen und analysieren, müssen zum besseren Verständnis und zur Vermeidung eventueller Mißverständnisse zwei Fragen geklärt werden. Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, daß ich hier das Funktionieren des regierenden Organs der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, des gemeinsamen Ministerrates, des die Gesellschaft des einstigen Kaiser-Königreiches lenkenden »Instruments«, des Apparates untersuche und mich nur mit kurzen Hinweisen auf die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse berufe, die diesen Apparat hervorbrachten. Ich weiß, daß es ein Treibhausexperiment ist, die Tätigkeit der Regierungsorgane so, aus den gesellschaftlichen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Bedingungen fast gänzlich herausgehoben, scheinbar abgesondert, fast in sich selbst zu untersuchen. Es würde jedoch teils die Kräfte des Verfassers, teils den gegebenen Rahmen übersteigen, wollte er die in der Tätigkeit der Regierungsorgane des Habsburgreiches von Zeit zu Zeit eingetretenen Veränderungen stets auf ihre tiefsten Wurzeln, auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse zurückführen. Jede Institution, die das Zusammenleben von Menschen regelt, entsteht aus dem Kampf von Interessen. So kam auch der gemeinsame Ministerrat der Monarchie zustande. Die das Leben von Staaten, Gesellschaften regierenden, lenkenden Organe überleben gewöhnlich die politischen Situationen, deren objektive Erscheinungsformen, manchmal bloß Spiegelbilder diese Institutionen sind. 176 Das Ziel von Untersuchungen, wie auch unserer, ist es eben, zu versuchen, die geschichtliche Rolle derartiger Einrichtungen festzustellen. 177 In der gesellschaftlich-politischen Entwicklung werden die institutionellen Rahmen des Lebens selbst auch zu Faktoren. Sie sichern, daß gewisse Kräfte zur Geltung kommen, anderen versperren sie den Weg oder schwächen deren Wirkung ab. Die äußeren Formen des gesellschaftlichen Lebens (in unserem Falle der im engsten Sinne genommene Amts-