Komjáthy Miklós: Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (1914–1918) (Magyar Országos Levéltár kiadványai, II. Forráskiadványok 10. Budapest, 1966)
Einleitung: Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates und seine Tätigkeit während des Weltkrieges
lung und brachte ihm gleichzeitig zur Kenntnis, daß er innerhalb einer halben Stun de Belgrad verlassen würde und damit die diplomatischen Beziehungen zwischen der Monarchie und Serbien abgebrochen seien. Giesl verließ mit der Gesandt schaft tatsächlich um halb 7 die serbische Hauptstadt. Ganz Europa beobachtete gespannt, wie sich die Dinge in Belgrad entwickeln werden. Der ungarische Ministerpräsident ersuchte um Mitteilung des Ergebnis ses. »Dies hätte er gewiß nicht getan«, schreibt Jenő Horváth 174 , »wenn er gewußt hätte, daß dies der Bruch sein würde. Es ist sonderbar, daß die Wiener russische Botschaft bereits am 24. Juli wußte, was nicht einmal der Chef der ungarischen Regierung wußte, daß Baron Giesl die Anweisung erhalten hatte, Belgrad zu ver lassen.« Aus der Analyse der Ministerratsprotokolle geht hervor, daß die gemeinsamen und die österreichischen Minister für das Attentat von Sarajevo um jeden Preis und damals an Serbien Vergeltung üben wollten. Tisza hielt den Zeitpunkt keineswegs für geeignet. Er stellte sich fest der Ansicht seiner Ministerkollegen entgegen, die — teilweise vielleicht deshalb, weil sie befürchteten, vor der internationalen Öffent lichkeit als Urheber des Krieges in eine unmögliche Lage zu geraten — den For derungen des ungarischen Ministerpräsidenten nachgaben und ihren Beschluß über die an Serbien zu richtende Demarche in der bekannten Form faßten. Berchtold sah, daß er Tisza für den Gedanken des sofortigen Kriegsbeginns nicht gewinnen konnte: er gab also dem Gesandten in Belgrad Weisungen, die dem Geiste der im gemeinsamen Ministerrat auf Tiszas Wunsch gefaßten Beschlüsse nicht entsprachen. Inzwischen unternahm der Außenminister alles, um den ungarischen Ministerpräsidenten zur Abänderung seines Standpunktes zu über reden. Er berief sich hauptsächlich darauf, daß Deutschland von der Mo narchie eine feste und entschiedene Stellungnahme verlange. All dies genügte jedoch nicht, um Tisza zu überzeugen. Deshalb war es nötig, Giesl solche Anweisungen zu geben, die die Abweisung der Demarche im vorhinein wahr scheinlich machten. Die Zurückweisung der Demarche war aber gleichbedeu tend mit Krieg. Ich glaube, heutzutage gibt es keine Meinungsverschiedenheit mehr darüber, daß die führenden Staatsmänner der Monarchie für die Entfesselung des Krieges keinesfalls mehr verantwortlich sind als die maßgebenden Politiker irgendeiner kriegerischen Großmacht der damaligen Welt. Die Probleme der auf das Sarajewoer Attentat folgenden Kriegserklärung habe ich jedoch nicht untersucht, um dies — quasi als Nebenprodukt — festzustellen, sondern um das Funktionieren der dualistischen Staatskonstruktion im Lichte der tragischen Ereignisse des Juli 1914 zu beobachten. Im Jahre 1878 wurden die Delegationen von Andrássy bewußt umgangen ; vor der Annexion erbrachte Aehrenthal schon nach den auf der Ebene des gemeinsamen Ministerrates geführten Besprechungen seine Beschlüsse. Das Zusammenschrumpfen der mit dem Ausgleich geschaffenen Institutionen machte jedoch selbst hier nicht halt. Im Juli 1914 hat der Minister des Äußern, die Mög lichkeiten ausnutzend, die ihm die eigenartige politische Einrichtung der Öster reichischUngarischen Monarchie bot, den Krieg in dem von ihm gewählten Zeit punkt ausgelöst. Wie schon am Anfang dieser Erörterungen betont wurde, ist aus