Á. Berta (Hrsg.): Wolgatatarische Dialektstudien: Textkritische Neuausgabe der Originalsammlung von G. Bálint, 1875–76.
Á. Berta: Vorwort
II Bálint hat Kasan Ende September 1871 verlassen. Ihm gelang es, während seines kurzen Aufenthaltes unter den Kasantataren nicht nur seinen ursprünglichen Plan erfolgreich zur Ausführung zu bringen, [14] sondern auch zum kasantatarischen Schulunterricht einen Beitrag zu leisten. [15] 3. Der Herausgeber der vorliegenden Neuausgabe hat 1978 während seines fünfmonatigen Aufenthaltes in Kasan die Möglichkeit gehabt, Bálints Materialien durchzuarbeiten und bis ins kleinste zu kontrollieren. Aus dieser Arbeit, die später in Ungarn fortgesetzt wurde, erhellt, dass Bálints wertvolle Sammlung, die heute als ein ausserordentlich wichtiges Sprachdenkmal für das Tatarische des 19. Jahrhunderts gilt, ein in mehr als einer Hinsicht eigenartiges Sprachmaterial bietet. Dieses Sprachmaterial, das von der islamisch geprägten damaligen Schriftsprache ganz offensichtlich abweicht, lehnt sich weder an die kasanische Volksbzw. Umgangssprache, noch an eine bestimmte Mundart (getaufter Tataren) an. Es stellt eine gewissermassen künstlich geregelte Koine mehrerer Mundarten bzw. Untermundarten (meistens Getaufter) dar. Diese Koine hat sich in einer kleinen Gemeinde, [16] in der 1863 gegründeten Zentralschule der Getauften herausgebildet. Die Eigenartigkeit von Bálints Sprachmaterialien ist aber nicht allein darin zu suchen, dass sie ein interessantes Phänomen darstellen. Im Vergleich zu anderen Denkmälern dieser Koine, d.h. zu den für die Getauften herausgegebenen Broschüren und Büchern [17] weisen Bálints Aufzeichnungen deutliche Unterschiede auf. Diese Unterschiede deuten darauf hin, dass Bálints Bestrebung, obwohl seine Materialien letzten Endes als eine lateinische Transliteration seiner kyrillischen Aufzeichnungen in Kasan aufzufassen sind, nicht immer die buchstabengetreue Wiedergabe der kasanischen Notizen war. [18] Er versuchte möglichst genau das Gesprochene zu präsentieren, [19] und dadurch bietet er einen wichtigen Schlüssel nicht nur zu den kyrillischen Denkmälern der Getauften, sondern auch zur Klärung zahlreicher Fragen der historischen Dialektologie des Kasantatarischen. 4. Die Schlüsselposition von Bálints Materialien unter den verschiedenen Quellen der kasantatarischen Dialektologie ist durch die besondere SteUung der Mundarten getaufter Tataren zu erklären. Bálint hat nicht ohne Grund betont, dass seine Materialien die "richtige" tatarische Sprache darstellen. In der Tat sind die Mundarten Getaufter vom sprachgeschichtlichen Standpunkt aus betrachtet von grosser Wichtigkeit. Im Vergleich zu den meisten Mundarten weisen sie sehr viele Archaismen im phonetischen, morphologischen und lexikalischen Bereich auf. Ihr sprachlicher Konservativismus hat seine Gründe in ihrer Isoliertheit von den übrigen (d.h. mohammedanischen) Gruppen der tatarischen Bevölkerung. Die Kontakte zwischen Getauften und Mohammedanern hörten gleich nach dem Übertritt der ersten Tatarengruppen zur rechtgläubigen Kirche im 16. Jahrhundert auf. Obwohl die während der Geschichte nur sehr langsam zunehmende getaufte Minderheit — abgesehen von einigen Ausnahmen — im wahrsten Sinne des Wortes genommen zu keiner christlichen Gemeinde wurde, [20] wurden sie doch als Abtrünnige betrachtet. Ihre Isoliertheit begünstigte nicht nur die Bewahrimg archaischer sprachlicher Charakterzüge, sondern sie ermöglichte auch das Erscheinen einiger sprachlicher Sonderentwicklungen. [21] In dieser Hinsicht sind die Mundarten der Getauften mit den Mundarten der Nokraten und kassimowschen Tataren zu vergleichen.