Schürer, Fritz von Waldheim dr.: Ignaz Philipp Semmelweis (Wien-Leipzig, 1905)
1846-1850. Assistent in Wien. Entdeckung der Ursachen des Kindbettfeiebers. Erfolge und Verfolgungen. Dozent. Abreisen von Wien
13 Exsudationsprozesse hervorzurufen, vermochte Semmelweis nicht ein- zusehen. Im übrigen konnte er überhaupt nicht bemerken, daß die Frauen sich vor den Ärzten schämten, wohl aber, daß sie Furcht hatten vor der Klinik, weil in der ganzen Stadt bekannt war, welch große Zahl von Toten dieselbe alljährlich lieferte. Nur mit Schrecken betraten die Gebärenden die Anstalt und hielten sich für verloren. Wie sollte aber die Furcht, ein psjmhischer Zustand, materielle Veränderungen von der Art des Kindbettfiebers erzeugen? Und zu Beginn, als das Gebäude der I. Klinik neu errichtet war, herrschte ja noch keine Furcht, und doch zog der Tod sofort in seine Räume ein. Auf beiden Kliniken gab es naturgemäß teils Frauen aus bürgerlichen und Arbeiterfamilien, teils in Not und Elend lebende Weiber, verkommene Dirnen. Ein Unterschied wurde bei der Aufnahme nicht gemacht. Selbst die religiösen Gebräuche machte man für die Seuche verantwortlich. „Die Kapelle des Krankenhauses,” erzählt Semmelweis,*) „hatte eine derartige Lage, daß der von dort kommende, die Sterbesakramente spendende Priester in das Krankenzimmer der zweiten geburtshilflichen Klinik gelangen konnte, ohne die übrigen Wöchnerinnenzimmer zu berühren, während er an der ersten geburtshilflichen Klinik fünf Zimmer passieren mußte, weil das Krankenzimmer der ersten Abteilung in der Richtung zur Kapelle das sechste war. Die Priester pflegten im Ornate unter Glockengeläute eines vorausgehenden Kirchendieners, wie der katholische Ritus es mit sich bringt, sich zu den Kranken zu begeben, um sie mit den heiligen Sterbesakramenten zu versehen. Man trachtete zwar, daß dies durch 24 Stunden nur einmal geschehe, aber 24 Stunden sind für das Kindbettfieber eine sehr lange Zeit, und manche, die während der Anwesenheit des Priesters noch ziemlich wohl war und deshalb mit den heiligen Sterbesakramenten nicht versehen wurde, war nach Verlauf von einigen Stunden schon so übel, daß der Priester neuerdings geholt werden mußte. Man kann sich denken, welchen Eindruck das öfter im Tage hörbare verhängnisvolle Glöckchen des Priesters auf die anwesenden Wöchnerinnen hervorbrachte. Mir selbst war es unheimlich zu Mute, wenn ich das Glöckchen an meiner Türe vorbeieilen hörte; ein Seufzer entwand sich meiner Brust für das Opfer, welches schon wieder einer unbekannten Ursache fällt. Dieses Glöckchen war eine peinliche Mahnung, dieser unbekannten Ursache nach allen Kräften nachzuspüren.” Semmelweis appellierte an das Humanitätsgefühl der Diener Gottes und erreichte es ohne Anstand, daß die Priester künftighin auf einem Umwege, ohne Glockengeläute, ohne ein anderes Zimmer zu berühren, sich unmittelbar in das Krankenzimmer begaben, so daß außer den Anwesenden des Krankenzimmers niemand die Gegenwart des Priesters inne wurde. Aber die furchtbare Sterblichkeit auf der I. Klinik nahm deshalb nicht ab. ') Ätiologie, p. 33.