Schürer, Fritz von Waldheim dr.: Ignaz Philipp Semmelweis (Wien-Leipzig, 1905)

1846-1850. Assistent in Wien. Entdeckung der Ursachen des Kindbettfeiebers. Erfolge und Verfolgungen. Dozent. Abreisen von Wien

11 Semmelweis zuerst zu zweifeln begann. Wie kommt es, fragte er sich, daß die atmosphärisch-kosmisch-tellurischen Einflüsse, welche das Kindbettfieber über ganze Länderstrecken verbreiten sollen, durch eine Reihe von Jahren vorzüglich die Frauen der ersten geburtshilflichen Klinik Professor Klein’s dahinrafften, während sie in derselben Stadt, im selben Gebärhause auf der durch ein gemeinschaftliches Vorzimmer mit der I. Klinik verbundenen II. Klinik des Professor Bartsch die Frauen so auffallend verschonten, daß vergleichsweise nur ein Drittel derselben der Seuche erlag? Die beschuldigten atmosphärisch-kosmisch- tellurischen Einflüsse müssen auf die Individuen entweder vor ihrer Aufnahme ins Gebärhaus oder während ihres Aufenthaltes daselbst wirken. In beiden Fällen bleibt es unverständlich, weshalb konstant durch eine ganze Reihe von Jahren eine so große Verschiedenheit in den Mortalitätsverhältnissen zweier benachbarter Kliniken eintreten kann. Diese Erwägungen allein drängten Semmelweis die Überzeugung auf, daß es keine epidemischen Einflüsse sein können, welche die schreckenerregenden Verheerungen unter den Wöchnerinnen der I. Gebärklinik hervorrufen. Und nachdem einmal diese Überzeugung sich seiner bemächtigt hatte, fanden sich bald andere Gründe, welche ihn in seiner Überzeugung mehr und mehr bestärkten. Nicht nur in der II. Gebärklinik, auch in den übrigen Teilen der Stadt Wien und auf dem Lande draußen war zur Zeit, als das Puerperal­fieber auf der Klein’sehen Klinik am heftigsten wütete, von epidemi­schen Erkrankungen nichts zu merken. Und wie bekämpft man eine solche Gebärhausepidemie am wirk­samsten? Durch Schließung der Anstalt! Die Schwangeren sind nun genötigt, in ihren meist dürftigen Wohnungen, also unter für die Ge­sundheit weit ungünstigeren Verhältnissen und den atmosphärischen Einflüssen ärger ausgesetzt, zu gebären und — bleiben gesund. Was würde man dazu sagen, wenn man, um einer Choleraepidemie Herr zu werden, empfehlen würde, die Choleraspitäler zu schließen? Es ist klar, atmosphärische Einflüsse bedingen das Puerperalfieber nicht, die Ursachen müssen in der I. Gebärklinik selbst liegen, es handelt sich nicht um Epidemien, sondern um an die Örtlichkeit gebundene Erkrankungen, um Endemien. Mit dieser Erkenntnis hatte Semmelweis wieder einen Schritt vorwärts getan. Der an der herr­schenden Anschauung Zweifelnde, atmosphärische Einflüsse Leugnende war zu einer positiven Ansicht gekommen. Nun erwog er die möglichen Ursachen der angenommenen Endemie. Man hatte schon öfter lokale Gründe für die größere Sterblichkeit auf der I. Gebärklinik namhaft gemacht. Behördliche Kommissionen, die zusammentraten, so oft das Puerperalfieber ganz besonders wütete, beschuldigten der Reihe nach die verschiedensten Umstände, so die Überfüllung, die Verseuchung des Lokales, die un­vorteilhafte Lage desselben, die medizinische und geburtshilfliche Be­handlung, Diätfehler, die schlechte Ventilation, die Wäsche, den un­

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