Schürer, Fritz von Waldheim dr.: Ignaz Philipp Semmelweis (Wien-Leipzig, 1905)
1818-1845. Kindheit und Jugendjahre
6 Hebammen an Puerperalleichen üben und erreichte es, daß die Sterblichkeit von 0-84% im Jahre 1822 unter Boer, bereits im Jahre 1823 auf 7-45% stieg und sich in der Folgezeit meist auf gleicher Höhe erhielt. Was für ein Kirchenlicht Klein war, erhellt aus folgendem Vorfall, der sich in der wissenschaftlichen Plenarversammlung des Doktorenkollegiums der medizinischen Fakultät in Wien am 22. April 1852 zutrug. Dr. Nuss er, der spätere Wiener Stadtphysikus, war in einem wirksamen Vortrage dafür eingetreten, daß gemäß den modernen Anschauungen die Geburtshilfe weniger theoretisch und mehr praktisch unterrichtet werden möge. Klein, gegen dessen verknöcherte Unterrichtsmethode der Vorschlag sich richtete, antwortete, die Theorie der Geburtshilfe mache die Zeit von 6 Monaten notwendig, während der Student in 2 Monaten hinlänglich Zeit habe, sich praktisch auszubilden. Die Ausführung der Operationen durch die Kandidaten selbst könne er aber durchaus nicht zugestehen, denn er könne die Verantwortung für die Folgen nicht übernehmen! Auf Dr. Nus ser’s Entgegnung, es wäre doch zweckmäßiger, den Schüler unter Aufsicht des Professors und Assistenten operieren zu lassen, statt daß der diplomierte, aber nicht geübte Geburtsarzt in der Privatpraxis ohne Aufsicht und Leitung zu operieren gezwungen sei, erwiderte Klein, daß dies allenfalls traurig sei, er habe aber für die Folgen nicht einzustehen! Wenn ein Mann von solchen geistigen Qualitäten in Semmelweis die Vorliebe für Geburtshilfe und Gynäkologie nicht ertöten konnte, so mußte diese Vorliebe in letzterem in der Tat tief wurzeln. Noch am selben Tage, da er Magister der Geburtshilfe geworden war, stellte er sich dem Professor Klein vor als Bewerber um die in 2 Jahren neu zu besetzende Stelle eines Assistenten der Klinik. Klein, der ihn als fleißigen Schüler kennen gelernt hatte, nahm seine Bewerbung günstig auf und erlaubte ihm, als Aspirant für die Assistentenstelle fortan die Klinik täglich zu besuchen. Diese herrliche Gelegenheit, zu lernen, nutzte Semmelweis weidlich aus, und da ihm daneben keine Zeit übrig blieb, an der gynäkologischen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses zu praktizieren, so erwdrkte er sich von dem ihm gewogenen Professor Rokitansky die Erlaubnis, sämtliche weibliche Leichen der Totenkammer allmorgendlich untersuchen und diejenigen von ihnen, welche nicht zu Sektionen bestimmt waren, sezieren zu dürfen, damit er das Erlebnis seiner Untersuchung durch den Sektionsbefund kontrollieren könne.*) Mit seltener Ausdauer führte er diese eigenartigen Untersuchungen durch, und fast kein Tag verging, wo er nicht vaginale Leichenuntersuchungen und Sektionen vornahm — unmittelbar vor der Morgenvisite im Gebärhause! In letzterem verbrachte er den größten Teil des Tages, oft auch der Nacht, teils als stiller Beobachter, teils aktiv an Untersuchungen und Operationen sich beteiligend. Neben*) Semm., Ätiologie, p. 72.