Lothar Groß: Inventare Teil 5. Band 1. Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559-1806 (1933)

I. Die allgemeine Entwicklung der Reichskanzlei von 1559-1806 - 3. Die Reichskanzlei im Kampfe mit der österreichischen Hofkanzlei bis zum Rücktritt des Reichs Vizekanzlers Schönborn

zeigte sich gegenüber Lindenspür sehr entgegenkommend, versprach die Kandidatur Boineburgs beim Kaiser zu unterstützen und riet, schon jetzt ein an den Kaiser gerichtetes Handschreiben des Erzkanzlers, in dem Boine- burg als Vizekanzler nominiert werde, auszufertigen und Lindenspür zuzu­senden, in das sodann im Falle des Ablebens des Grafen Kurz nur mehr das Datum einzusetzen sein würde 167). Der Kurfürst befolgte diesen Rat, es dauerte aber noch mehr als zwei Jahre, bis Kurz starb und das Handschreiben übergeben werden konnte. Als Kurz am 24. März 1659 gestorben war, nah­men die Ereignisse jedoch einen ganz anderen Verlauf, als man sich in Mainz, gestützt auf die Erklärungen Auerspergs, erwartet haben mochte. See- liger hat die damaligen Vorgänge bereits geschildert16S). Der Kaiser wie der Erzkanzler gingen jeder für sich selbständig vor. Eine Fühlungnahme mit Mainz, die kaiserlicherseits unmittelbar nach dem Tode Kurzens versucht worden zu sein scheint171), blieb erfolglos. Während Leopold I. sogleich den Reichshofratsvizepräsidenten Georg Ulrich Graf Wolkenstein zum vorläufigen Verwalter der Kanzlei bestellte und erklärte, sich über die Person des zukünftigen Reichsvizekanzlers mit dem Erzkanzler ins Ein­vernehmen setzen zu wollen, ging dieser nach seinem vorgefaßten Plane sogleich mit der Ernennung Boineburgs zum Vizekanzler vor, die er dem Kaiser notifizierte, wobei er mitteilte, daß er bis zum Amtsantritt Boine­burgs den Reichshof rat Georg Ludwig Lindenspür 169 170) mit der Leitung der Reichskanzlei betraut habe. Der Mainzer Resident und Taxator Georg Friedrich Lindenspür hatte im kurfürstlichen Auftrag sofort nach Kurzens Tod die Siegel ins Taxamt genommen. Der Konflikt spitzte sich weiter z u, als Wolkenstein zu amtieren begann und der Erzkanzler das Verbot erließ, ihm aus den Taxgefällen etwas auszuzahlen 17°). Der ganze Streit wurde natürlich verschärft durch die damalige Spannung zwischen Kaiser und Mainz, die infolge der Gründung des Rheinbundes durch Johann Philipp und dessen Anlehnung an Frankreich entstanden war170 a). Erst wenn man diesen Hintergrund des Zusammenstoßes kennt, versteht man die Heftigkeit, mit der man beiderseits auftrat. Der Kaiser stellte sich auf den Standpunkt, daß es ihm vollkommen fern läge, den Erzkanzler in seinen Rechten beeinträchtigen zu wollen, daß er aber dem Herkommen gemäß eine Vereinbarung über die Person des zukünftigen Vizekanzlers verlange. Praktisch wurde dadurch allerdings das dem Erzkanzler in der Wahlkapi­tulation eingeräumte unbeschränkte Ernennungsrecht in Frage gestellt. Dem Kaiser handelte es sich darum, Boineburg, der in Wien höchst unbeliebt war, weil er, mit Recht, als Hauptvertreter der französischen Politik des Kurfürsten galt170 b), zu vermeiden. Sein Kandidat war Isaak Volmar, der 167) Vgl. Lindenspürs Bericht v. 28. Dez. 1656 i. Mzer. R. K. 3. 168) a. a. O. 1 j9 ff. 169) Er war der Bruder des Mainzer Residenten und Taxators der Reichskanzlei Georg Friedrich. Die Angaben Seeligers, Kretschmayrs und Mentz’, daß der Resident zum Leiter bestellt wurde, beruhen auf einer Verwechslung. 17°) Das Material über diese Vorgänge s. Mzer. R. K. 3 u. R. K. Verf. A. 2. 17°a) Vgl. dazu Mentz a. a. O. 1, 60 ff. u. 92 ff. 170 b) Vgl. über Boineburg, Pribram, Venetian. Dep. II/i, 227, wo er stipendiato da Franzza genannt wird, ferner Levinson, Nuntiaturber. v. Kaiserhofe i. Arch. f. öst. Gesch. 103, 672 („pensionario di Francia"). 50

Next

/
Thumbnails
Contents