Lothar Groß: Inventare Teil 5. Band 1. Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559-1806 (1933)
I. Die allgemeine Entwicklung der Reichskanzlei von 1559-1806 - 3. Die Reichskanzlei im Kampfe mit der österreichischen Hofkanzlei bis zum Rücktritt des Reichs Vizekanzlers Schönborn
über die Hofkanzlei vorgebracht wurden, wiederholten sich nicht mehr und die Akten der Reichskanzlei aus diesen Jahrzehnten beweisen, daß sie auf diesem Gebiete die Angriffe der Hofkanzlei erfolgreich abgewehrt hatte. Noch war die Hofkanzlei weit davon entfernt, ihre ältere Rivalin aus dieser Position verdrängen zu können, noch wurde das ganze Schreibgeschäft des geheimen Rates, soweit es die Außenpolitik betraf, ausschließlich durch Beamte der Reichskanzlei besorgt1B2). Zweifellos hat hiebei die Wirksamkeit des Grafen Kurz eine Hauptrolle gespielt. Nicht minder wichtig war auch, daß Anselm Kasimir von Mainz ein treuer Anhänger des Kaisers war und auch sein Nachfolger Johann Philipp bis 1656 noch durchaus auf Seite des Kaisers stand 153). Mit dem letzteren war jedoch ein Mann auf den Mainzer Bischofsstuhl gekommen, der mit einer hohen Auffassung von seiner Stellung als Erzkanzler und dessen Pflichten auch eigene politische Gedanken verband und eine selbständige Reichspolitik verfolgen wollte 154). Von Johann Philipp von Schönborn mußte man daher auch ein energisches Eintreten für seine Rechte als Erzkanzler und die Zurückweisung aller Versuche zur Schmälerung derselben erwarten. Die schlechten Erfahrungen, die man in Mainz nach Stralendorffs Tode bei der Besetzung des Vizekanzlerpostens gemacht hatte, ließen es wünschenswert erscheinen, die erste sich bietende Gelegenheit zu benützen, um das Recht des Erzkanzlers auf die Ernennung des Vizekanzlers, das in den letzten Jahrzehnten ganz in den Hintergrund gedrängt worden war, sicherzustellen. Der Weg, auf dem dieses Ziel angestrebt werden konnte, war seit der Wahlkapitulation Ferdinands III. vorgezeichnet und die Verhandlungen über die Wahl Ferdinands IV. boten die erwünschte Gelegenheit, ihn zu beschreiten. In dem auch im übrigen neu textierten Artikel 41 der Kapitulation Ferdinands IV. vom 2. Juni i6j3 wurde als Punkt 3 die Verpflichtung des Kaisers aufgenommen, dem Erzkanzler „in Bestellung“ der Reichshofkanzlei sowohl bezüglich des Reichsvizekanzlers wie auch der Sekretäre und der übrigen Beamten keinen „Eingriff“ zu tun „noch darin Maß oder Ziel zu geben“ 15S). Die Bestimmung sicherte eigentlich nur die Beobachtung der Kanzleiordnung zu und bedeutete insoferne keine Preisgabe eines kaiserlichen Rechtes, sondern vielmehr den Verzicht auf ein in den letzten Jahrzehnten geübtes, in der Kanzleiordnung nicht begründetes eigenmächtiges Vorgehen. Die Fassung der Bestimmung war allerdings so weitmaschig, daß man daraus auch einen Verzicht auf das kaiserliche Zustimmungsrecht bei der Ernennung der Kanzleipersonen herauslesen konnte. Kaiserlicherseits scheint man an dieser Bestimmung aber keinen Anstoß genommen zu haben. Es erfolgte kein Einwand gegen sie bei der Verhandlung im Fürstenrat158). Außer dieser für den Erzkanzler sehr wichtigen Bestimmung wurde dann auch noch der gegen die Übergriffe der österreichischen und böhmischen Hof152) Vgl. im Einzelnen meine Abhandlung i. d. Histor. Vierteljahrsschrift, 22, 288 ff. 153) Vgl. Georg M e n t z, Johann Philipp v. Schönborn, 1, 46 u. 52 ff. 154) Vgl. Mentz a. a. O. 2, 51 ff. 155) R i e g g e r, K. Joseph II. hármon. Wahlkapit. 2, 309. 156) Interessant ist, daß in den kurkölnischen „Erinnerungen“ zur Wahlkapitulation Ferdinands IV. (Mzer. Wahl- u. Krön. Akt. 16, Nr. 107) der ganze Artikel 41 samt dem auf die Reichskanzlei bezüglichen Passus enthalten ist. Johann Philipp von Mainz scheint sich demnach die Hilfe seines Mitkurfürsten schon vorher gesichert zu haben. 47