Lothar Groß: Inventare Teil 5. Band 1. Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559-1806 (1933)

I. Die allgemeine Entwicklung der Reichskanzlei von 1559-1806 - 2. Die Reichskanzlei unter Rudolf II. und Mathias

auch an, den Zutritt fremder Personen zur Kanzlei, die dort oft unbefugter­weise Einblick in die Schriftstücke nahmen, mit größerer Strenge als bisher abzustellen. Ein eigener Artikel der Verordnung beschäftigt sich mit den Pflichten des Kanzleidieners, besonders mit der Zustellung der Briefe, die offenbar sehr viel zu wünschen übrig ließ. Wiewohl diese Vorschriften Johann Sdhweikhards, die im übrigen, wie schon Seeliger bemerkte 92), ihre Genehmigung durch den Kaiser ausdrücklich betonen, größere Schärfe zeigen, als die seines Vorgängers und vor allem auch die Verantwortlichkeit des Reichsvizekanzlers für die Ordnung in der Kanzlei hervorheben, so mußten sie wegen der allgemeinen Verhältnisse am Kaiserhofe doch un­wirksam bleiben. Der Vizekanzler Stralendorff hatte infolge seiner völligen Einflußlosigkeit beim Kaiser eine viel zu schwache Stellung, um die ein­gerissenen Übelstände zu beseitigen. Am gleichen Tage erließ der Erz­kanzler auch ein Taxmemorial, das am 15. September in der Kanzlei vor dem gesamten Personal feierlich verlesen wurde, wobei dem Kurfürsten auch von allen Kanzleipersonen der Handschlag an Eides Statt geleistet wurde 93). Es richtete sich vornehmlich gegen die unbefugten Taxbefreiungen und die zu hohen Kanzleiausgaben, regelte aber auch den Betrieb des Taxamtes im einzelnen. So sehr auch Johann Schweikhard bestrebt war, die Verhältnisse in der Kanzlei zu verbessern, so vermochte er nicht zu hindern, daß deren Verfall im letzten Regierungsjahre Rudolfs womöglich noch größer wurde. Stralendorff, der gerade in den letzten Wochen des Prager Aufenthaltes des Kurfürsten vom Vizekanzleramt abgesetzt worden war und den geheimen Rat nicht hatte besuchen dürfen, war zwar noch im September 1610 vom Kaiser wieder in seine Stelle eingesetzt worden 94 95 *), war aber ohnmächtiger denn je, vielfach gingen im Jahre 1611 kaiserliche Schreiben ohne seine Unterzeichnung hinaus, von den Sekretären wanderte Hannewald nach der Einnahme Prags durch Mathias in den Kerker und begab sich nach seiner Freilassung außer Landes, Barvitius war zur Einflußlosigkeit verurteilt, der einzige Hertel amtierte nach den Weisungen des Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig, der seit dem Prager Fürstenkonvent beim Kaiser ver­blieben war und nunmehr den geheimen Rat, soweit er überhaupt noch vorhanden war, leitete und faktisch die Regierung führteBä). Die Vor­gänge in Prag, die nach bedingungsloser Abdankung Rudolfs II. am 23. Mai 1611 zur Krönung seines Bruders Mathias zum König von Böhmen führten und so bewirkten, daß der Kaiser in Böhmen nichts mehr zu gebieten hatte, machten die Frage der V erlegung der Residenz Rudolfs und damit auch der Reichskanzlei für die Kurfürsten aktuell. Schon am 21. Mai forderte der Erzkanzler von Stralendorff Bericht über die Ver­wahrung der Kanzlei und der Registratur sowie darüber, ob Mathias und die böhmischen Stände sich dafür interessieren und wie man sie nötigenfalls wegschaffen könnte 9e). Wenige Tage später erklärte der Mainzer Gesandte dem Vizekanzler offiziell, daß die Kurfürsten für die Verlegung der kaiser­lichen Residenz ins Reich seien, wohin auch die Reichskanzlei gebracht werden 92) a. a. 0.172. 93) Drude bei U f f e n b a c h a. a. O. 33 ff. 94) Mayr a. a. O. 608, Anm. 1. 95) Vgl. C h r o u s t, Briefe u. Akten, 9, 543, 588 u. 648 9e) C h r o u s t a. a. O. 475, Anm. 2. 32

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