Historische Blätter 4. (1931)
Ferdinand Bilger: „Großdeutsche“ Politik im Lager Radetzkys
beiden Staaten um jene Zeit mit schärferem Blick erkannt worden. Wir müssen auf den Inhalt und die Entstehungsgeschichte dieser Denkschrift hier näher eingehen. Der Beginn des Jahres 1828 war charakterisiert durch den zunehmenden Gegensatz in der orientalischen Frage zwischen Österreich und den Signatarmächten des Londoner Protokolles vom 6. Juli 1827, vor allem Rußland 102. Ernste Verwicklungen erschienen nicht unmöglich. Preußens Haltung ließ die Ergebenheit des alten Bundesgenossen für Österreich vermissen. Noch im Dezember von 1827 waren von Berlin aus bezeichnende Dementis durch die Zeitungen gegangen, die Gerüchte seien unwahr, „daß der Besuch des Prinzen von Preußen in Petersburg mit der Politik des Tages in Zusammenhang stehe, daß eine preußische Erklärung existiere, wonach Preußen, im Fall eine andere Macht für die Türkei aufzutreten gesonnen sei, ebenso für die Alliierten Partei zu erklären deklariere“ 103. Am 16. Jänner hatte der „Österreichische Beobachter“ die offizielle Mitteilung der „Preußischen Staatszeitung“ vom 11. desselben Monates abgedruckt, aus welcher sich klar ergab, daß der preußische Hof, ohne den Londoner Traktat mitzuunterzeichnen, die Vorschläge der Signatarmächte dieses Protokolles bei der Pforte tatsächlich unterstützt hatte 104. Unter dem damaligen Gegensatz Rußland-Österreich und unter dem Eindrücke von Preußens Haltung, wie sie aus jenen Pressemitteilungen hervorging, ist Radetzkys Denkschrift vom Jänner 1828 entstanden. So werden zunächst die Beziehungen Preußens zu Rußland erwogen, das unmittelbar mit seinen Grenzen die Hälfte des preußischen Staatsgebietes umfasse, eine bedrohende Lage, welche die Fälle nicht ausschließe, daß Preußen freiwillig oder gezwungen seine Truppen den Russen anschließe105. Dann aber geht die Denkschrift, die in alle politisch-militärisch denkbaren Lagen eindringt, über auf jene Möglichkeiten, die sich nicht so sehr aus der gegenwärtigen Situation als aus dem inneren Gesetz, das in jedem Staate wirksam ist, ergeben. Nachdem er eben von Frankreich gesprochen, fährt er, sich zum Staate der Hohenzollern wendend, fort: „Ganz anders verhält es sich aber mit Preußen, das nicht, wie Österreich, allen Vergrößerungen in Deutschland 102 Vgl. Srbik, Metternich I. 635 ff. und Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert III. S. 731 ff. 103 Augsb. Alig. Zeitg. vom 24. Dezember 1827, S. 1431. 104 Österr. Beobachter 1828, Nr. 16, S. 65. Ebenso Augsb. Alig. Zeitg. 1828, Beilage Nr. 16. 105 A. a. O. S. 433 f. und 425. 26