Historische Blaetter 3. (1921-1922)
Heinrich R. v. Srbik: Die deutsche Einheitsfrage in der Frankfurter Nationalversammlung
Die deutsche Einheitsfrage in der Frankfurter Nationalversammlung von Heinrich R. v. Srbik1) Leopold v. Ranke sagt einmal, da er von den politischen Plänen Wallensteins spricht, etwas Hypothetisches, bleibe in dem Dunkel menschlicher Antriebe und Ziele immer übrig. Versagt unsere Erkenntniskraft vor der glatten, restlosen Lösung des Problems großer Individuen, so vervielfältigt sich1 „das Hypothetische“ bei der geschichtlichen Betrachtung der Triebkräfte und Bewegungen der Völkerindividualitäten. Dürfen wir deshalb mit Theodor Lessing die Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, als „die Vorurteile des Historikers, in Erzählung gebracht“ ihres Wissenschaftscharakters entkleiden? Bestünde dieser radikale Zweifel an der Geschichte zu Recht, dann müßte er mit annähernd gleichem Recht auf alle Wissenschaft erweitert werden. Eine alte, immer wieder vergessene Lehre mag er uns doch erneuern: es gibt keine größere Fehlerquelle, als Erscheinungen zurückliegender Zeiten mit dem Maßstabe der Gegenwart zu messen. Wieder hat Ranke für das Verhältnis von Wissenschaft und Leben, Wissenschaft und Politik dais Wahre.gefunden, wenn er an anderer Stelle schreibt: „Die .Wissenschaft muß ins Leben eingreifen; aber um zu wirken, muß sie vor allem Wissenschaft sein; denn unmöglich kann man seinen Standpunkt in dem Leben einnehmen und diesen auf die Wissenschaft übertragen, dann wirkt das Leben auf die Wissenschaft und nicht die Wissenschaft auf das Leben.“ Es wäre ein Leichtes, zu zeigen, wie sehr seit den Tagen des ersten deutschen Parlaments bei der geschichtlichen Beurteilung der deutschen Einheitsfrage, ihrer Lösungsversuche und vorläufigen Lösung, der gegensätzlichen Strömungen in dem großen Ideenringen der Paulskirche und ihres wechselnden Erfolges „das Leben auf die Wissenschaft gewirkt hat“. Der Kampf der großdeutschen! und kleindeutschen Idee war ja nicht nur ein Kampf des politischen Verstandes, sondern 1 Vortrag, gehalten in der historischen Sektion der 53. Versammlung deutscher Philologen zu Jena am 28. September 1921, hier einigermaßen erweitert. Die Hauptgrundlage bilden die Stenographischen Berichte der Frankfurter Nationalversammlung in der Ausgabe von Wigard. An Stelle von Literaturverweisen glaube ich mich mit dem summarischen Hinweise auf die Forschungen von Meinecke, Brandenburg, Wahl, Wentzke, Bergsträsser, Rapp, Schüssler, Haufe, Valentin u. a. begnügen zu dürfen. Meinem hochgeschätzten Kollegen Prof. Max Layer in Graz bin ich für freundlichen Rat zu Dank verpflichtet. 21* 353