Pester Lloyd-Kalender 1860 (Pest, 1860)

Pester Lloyd-Kalender für das Schalt-Jahr 1860 - Geschichte des Jahres

128 Geschichte des Jahres. gingen, Viktor Emanuel der Reihe nach die Annexions- deputationen der drei Herzogthümer und her Legatio­nen empfangen und jeder derselben eine Antwort qe- ben lassen, die sich ganz wie eine provisorisorische An­nahme anhörte. Da nun Napoleon die Anwendung von Waffengewalt zur Restauration der Herzoge ver­mieden wissen will und Lord Russell bei jeder Gele­genheit erklärt, an einem Kongresse zur Regelung der italienischen Frage, wie das Tuilerienkabinet ihn dringend wünscht, werde Großbritannien sich nur dann betheiligen, wenn derselbe den Forderungen der Bevölkerung Italiens Rechnung trage: ist es kaum auffallend, daß bei dem oben skizzirten Stande der mittelitalienischen Frage die seit dem 6. August in Zürich versammelten Vertreter Oefterreich's, Frank­reichs und Sardinien's binnen zweier Monate so gut wie gar nichts zur Vollziehung der Präliminarien von Villafranca ausgerichtet haben. Während bisher sich Alles so anließ, als solle in Zürich blos die Ab­tretung der Lombardei geordnet und die Konfodera- tions- so wie die Restaurationsangelegenheit einem europäischen Kongresse zugewiesen werden: gewinnt es jetzt plötzlich den Anschein, als werde in Mittel­italien eine schnellere und einseitige Entscheidung dadurch herbeigeführt werden, daß Pio IX., der, auf die Nachricht von dem Empfange der Bologneser Deputation in Monza durch Viktor Emanuel, augen­blicklich dem sardinischen Gesandten in Rom seine Passe hat zustellen lassen, den General Kalbermatten anweisen werde, die Operationen gegen die Ro- magna und das Bundesheer, von Pesaro aus zu eröff­nen. Wie Fanti sammt seinen Untergenerälen Gari­baldi, Mezzacapo und Roselli, so scheinen sich jetzt (7, Oktober) auch Ricasoli und Cipriani, die durch die betreffenden Konstituanten Toscana's nnd der Romag- na ernannten Gouverneure dieser Länder, und Farini, der erwählte Diktator von Modena und Parma , zu einem Kampfe vörzubereiten, bei dem Sardinien sie nicht im Stiche lassen kann und wird. Außerhalb der großen europäischen Fragen, ha­ben wir noch zu erwähnen, daß es in Rußland dem General Bariatinski gelang, am 15. September durch die G e f a n g e n n e h m u n g S ch a m y l' s den kaukasischen Krieg vorläufig zu beenden. Der Pforte mag dies Ereigniß, das den Russen in dem pacificir- ten Gebirgslande eine treffliche Operationsbasis gegen die asiatische Türkei verschafft, um so mehr zu denken geben, als an demselben Tage in Konstantino- p e l eine alttürkischeVerschwörung entdeckt, und, da ein großer Theil der Truppen zu den Con- spiratoren gehörte, nur durch die größte Vorsicht ver­eitelt ward. So steht der Sultan zwischen Scylla und Charybdis: indeß der nordische Koloß den Moslim näher und näher auf den Leib rückt, dringt das Abendland auf rückhaltlose Erfüllung des , die Chri­sten emanzipirenden Hathumaynm von 1856, während der Fanatismus der orthodoxen Gläubigen unter lebensgefährlichen Drohungen von Abdulmedschid die Rücknahme eben jenes Gesetzes begehrt. In Asien ist die Meuterei derSeapoys zwar mit der Hinrichtung ihres talentvollsten Chefs Tantia Topee's im April beendet worden, obschon Rena Sahib, der sich in die Gebirge Nepauls geflüchtet, noch lebt: aber die europäisch-ostindische Armee Englands existirt nur mehr dem Namen nach, da über 14,000 Mann derselben ihren Abschied erhalten haben, weil sie bei der Uebertragung der Herrschaft von der ostindischen Kompagnie an die britische Krone eine Erneuerung des Handgeldes begehrten. Indessen haben sie sich bereitwillig finden lassen, die chinesische Expe­dition mitzumachen, die, vor ihrer Einschiffung nach Europa, dadurch nothwendig geworden ist, daß die Himmlischen die Gesandten der Westmächte, die in Folge des Friedens von Tientsin nach Peking gehen wollten, am 25. Juni an der Peihomündung mit Kanonenschüssen empfingen und den Alliirten bei dem Sturme ans das Fort Taku eine arge Schlappe bei­brachten , welche den Engländern drei Kanonenbote kostete und von 1400 Angreifern volle 300 kampfun­fähig machte. Wenige Tage nachdem die Nachricht von dieser Barbarei in Europa angelangt, zeigte der „Moniteur" im September bereits an, daß zwischen Frankreich und England Berathungen über einen neuen Feldzug gegen China eingeleitet seien. Europa könnte sich zur baldigen und möglichst umfangreichen Verwirklichung dieses Planes nur Glück wünschen, da sie für die Wiederanknüpfung des anglogallischen Bündnisses ein besseres Pfand bilden würde, als alle jene Versicherungen über die angebliche Entwaffnung Frankreich's, durch welche das Organ der kaiserlichen Regierung die, nach dem Friedensschlüsse jenseits des Kanales wiederauftauchende Jnvasionspanik zu be­schwichtigen suchte. Und gewiß ist es ein merkwürdiges Symvtom dafür, wie die Bande zwischen Orient und Occident sich enger und enger knüpfen, wie die Geschicke des Morgen- und Abendlandes sich immer inniger mit einander verschlingen, wenn wir unsere diesjährige Revue mit den Worten schließen können: das Aus­laufen einer beträchtlichen englisch-französischen Flotte gegen China wäre das schlagendste Anzeichen dafür, daß über die Art, wie die mittelitalienische Frage zu losen ist, ein präcises Einvernehmen zwischen den bei­den Westmächten zu Stande gekommen sein muß.

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