Friedrich Würthle: Ergänzungsband 9. Dokumente zum Sarajevoprozeß. Ein Quellenbericht (1978)

Die Attentäter der „Mlada Bosna”

16 Unter den fremden Literaturen hatte bei den bosnischen Jugendlichen die russische Literatur Vorrang. Ein ,Mlada Bosna“-Führer schrieb an Leo Trotzki: ,Wir kennen die Geschichte Eurer Ideen und lieben sie . . . Wir sind, wenn Sie wollen, Eure geistige Kolonie. Doch alle Kolonien hinken dem Mutterland nach“* 23). Das bezog sich auch auf die politische Taktik, beson­ders auf die Auffassung über den politischen Terror. Die russische Linke hatte bereits ,die Propaganda der Tat“, besonders ,die individuelle Aktion“ als Kampfmittel verworfen und als Disziplinlosigkeit geächtet. In Bosnien fehlte die revolutionäre Grundstimmung, die jungen revolutionären Bosnier wollten diese Voraussetzungen erst schaffen; dazu geeignet waren nach ihrer Mei­nung Attentate. Nach dem Mordanschlag des Zerajic kam es zu Zusammenschlüssen serbi­scher und kroatischer Jugendgruppen; sie nannten sich zum Unterschied von den national-serbischen, national-kroatischen und mohammedanischen Bün­den „fortschrittlich“. Der Vorsitzende der größten dieser Gruppen war Ivo Andiié, der spätere Nobelpreisträger. Der Generation Zerajic-Princip war es gleichgültig, ob jemand Serbe, Kroate, Slowene oder Muslim war, wenn er nur den „nationalen Glauben“ besaß. Wie Jovan Skerlic24) in seinem Bericht über diese Generation erklärte, sei das richtige Wort für sie nicht Serbo- Kroate, sondern Serbokroate. 1912 erschien in einer Rijekaer Zeitung ein Aufruf, in dem es hieß: .Unsere Leute in der Monarchie ahnen nicht, wie sehr Serbien unser ist, wie Serbien hundertmal mehr, ich will nicht sagen, serbischer, sondern kroatischer als Kroatien selbst ist, und sie müssen das erfahren, hören und sehen. Deshalb ist es unbedingt nö­tig, daß sie herkommen, daß die kroatische Jugend auf die Belgrader Universität kommt, die nicht nur eine Schule der Wissenschaft, sondern noch mehr eine Schule der Freiheit ist. . ,“25). Das gute Verhältnis zwischen den bosnischen Katholiken und den k. u. k. Behörden war 1912 Belastungen ausgesetzt. Schuld daran trugen die Ereig­den? - Jahrgang 1909/10: Rudolf von Habsburg als Vater der Armen. — Jahrgang 1911/12: Fiesko und Verrina als Freiheitskämpfer. — Jahrgang 1912/13: Inwieweit ist Uhlands Ausspruch ,Es wird kein Haupt über Deutschland leuchten, das nicht mit ei­nem vollen Tropfen demokratischen Öls gesalbt ist‘ sowohl in Deutschland als auch in Österreich als charakteristisch aufzufassen? — Der Unterricht in der .Landessprache“ bezog die südslawischen Klassiker ein. 1880 erschien der Jahresbericht des Sarajevoer Obergymnasiums nur in deutscher Sprache, ab 1886 deutsch und serbokroatisch in lateinischer und cyrillischer Schrift, ab 1889 nicht mehr deutsch, nur mehr serbo­kroatisch. Um weder die cyrillische noch die lateinische Schrift, das heißt weder Ser­ben noch Kroaten, zu bevorzugen, wurde jährlich die Anordnung umgestellt. 23) Dedijer 431. 24) Jovan Skerlic, serbischer Universitätsprofessor; seine Vorlesungen über Litera­tur hatten auf die Geisteshaltung der jungen Bosnier großen Einfluß. Mirjana Gross (siehe Anm. 31) nennt ihn den .Ideologen des integralen serbo-kroatischen Nationa­lismus“. 25) Der junge bosnische Schriftsteller Borivoje Jeftic beklagte sich bei seiner Ein­vernahme durch den Untersuchungsrichter am 7. Juli 1914 über Österreichs Konserva­tivismus; die österreichischen Universitäten, ,wo der Großteil unserer Schüler durch­fällt“, seien besonders konservativ (Abschrift des Untersuchungsprotokolls im SAA).

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