Felix Ermacora: Ergänzungsband 8. Quellen zum Österreichischen Verfassungsrecht (1920) (1967)

I. Einleitung

20 Einleitung herigen Beratungen des Unterausschusses zum größten Teil nur durch wechselnde Mehrheitsbeschlüsse zustande gekommen seien, es sei daher zu befürchten, daß in der Nationalversammlung eine Zweidrittelmehrheit zur Beschlußfassung über das Verfassungswerk nicht zustande komme 40). Streitpunkte waren in erster Linie die Kompetenzen in Schulangelegen­heiten und im Finanzwesen. Zwischen den Christlichsozialen und den Sozialdemokraten wurden daraufhin Parteiverhandlungen aufgenom­men41). Sie begannen am 1. September 1920 und standen unter dem Vorsitz von Präsident Seitz. Für einzelne Fragenkomplexe wurden Parteienkomitees eingesetzt. Die Parteien standen sich so schroff gegen­über, daß mit dem Scheitern der Verfassungsverhandlungen zu rechnen war. Am 4. September faßte der Wiener christlichsoziale Parteirat unter dem Vorsitz des Obmannes Dr. Weiskirchner eine Entschließung, in der es u. a. heißt: „Sollte aber unter dem Drucke der Kürze der noch zur Verfügung stehenden Zeit von irgendeiner Seite der Versuch unternommen werden, Bestimmungen im Gesetze aufzuzwingen, welche dem Wohle des Volkes und der Stadt Wien schädlich wären, wie dies bei einer unter dem Deckmantel der Demokratisierung erfolgenden Politisierung der Verwaltung oder bei einer Kommunalisierung der Staatspolizei der Fall wäre, so fordert der Parteirat die Wiener christ­lichsozialen Abgeordneten auf, einer solchen Verfassung nicht zuzu­stimmen“ 42). Die Sozialdemokratie warf nunmehr den Christlichsozialen vor, das Zustandekommen der Verfassung zu verzögern. Am 17. September 1920 fand eine Sitzung der sozialdemokratischen Abgeordneten statt43). Es wurde betont, daß die Verfassung noch vor den Wahlen erstellt werden solle. Eine Zustimmung der Sozialdemokratie zur Verfassung setze aber voraus, daß die Schulaufsichtsbehörden nicht verländert würden, daß einzelne Kompetenzen (insbesondere Arbeiter­recht, Arbeiterschutz, Ernährungswesen u. a.) dem Bunde Vorbehalten werden, daß die Rechte des Bundesrates nicht weiter ausgedehnt werden, die Übertragung der staatlichen Behörden in den Länder an diese erst nach einer demokratischen Verwaltungsreform erfolge und Wien, ent­sprechend den Mehrheitsbeschlüssen des Verfassungsunterausschusses, eine Sonderstellung eingeräumt werde. Die Christlichsozialen empfanden die Beschlüsse des sozialdemokratischen Klubs als Ultimatum und er­innerten an die Entschließung vom 4. September. In einer neuerlichen Parteienverhandlung am 18. September 1920 wurde insofern eine Kom­promißlösung gefunden als die strittigen Fragen aus einer verfassungs­sungsentwurf, der die bisherigen Ergebnisse der Unterausschußberatungen wiedergibt. Vgl. diesen Entwurf, unten S. 379. 40) Vgl. die Arbeiter-Zeitung v. 27. 8. 1920, S. 4. 41) Vgl. die Arbeiter-Zeitung v. 27. 8. 1920 und die Reichspost v. 27. 8. 1920. 42) Siehe: Reichspost v. 5. 9. 1920. 43) Vgl. den Bericht in der Arbeiter-Zeitung v. 17. 9. 1920, S. 3.

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