Fritz Reinöhl: Ergänzungsband 7. Geschichte der k.u.k. Kabinettskanzlei (1963)

VII. Kurzbiographien der Leiter der Kabinette, der Kabinettsdirektoren und der Sektionschefs - 1. Die Leiter der Kabinette und die Kabinettsdirektoren

358 Schiessl auf Urlaub; über Budapest, wo er sich beim Kaiser in einer all­gemeinen Audienz für jene Anerkennung bedankte, reiste er nach Dres­den. Nach einigen Tagen wurde er von Goluchowski telegrafisch nach Wien berufen, wo ihm der Minister mitteilte, daß ihn der Kaiser zu seinem Kabinettsdirektor bestellen und ihn am 23. November sprechen wolle. Der Obersthofmeister Fürst Rudolf Liechtenstein hat Schiessl spä­ter einmal erzählt, daß er schon vor anderthalb Jahren für diesen Posten in Aussicht genommen wurde und Goluchowski ihn hiefür vorgeschla­gen hätte. In der an jenem Novembertag stattfindenden Audienz teilte der Kaiser Schiessl mit, daß Braun durch sein Alter und durch Leiden Monate lang dem Amt entzogen sei, er noch keinen Entschluß gefaßt habe, und sich Vorbehalte, in einiger Zeit Entscheidung zu treffen. Es ist für Schiessls hohes Verantwortungsgefühl bezeichnend, daß er vorbrachte, „daß er sich nicht die Eignung für diesen heiklen, verantwortungsvollen Posten, dessen Agenden ihm völlig fremd seien“, beimesse, einen Ein­wand, den Franz Joseph mit den Worten „Es wird schon gehen“ abtat136). Am 18. Dezember ließ der Kaiser seine Absicht zur Tat werden; er er­nannte an diesem Tage Schiessl zu seinem Kabinettsdirektor und ver­lieh ihm zugleich die Würde eines Geheimen Rates. Am 21. Dezember wurde er vom Kaiser in seiner neuen Stellung vereidigt137). Schiessl trat in vollem Ausmaß in die Fußstapfen seines Vorgängers. Er führte die Kabinettskanzlei in den von jenem geformten Bahnen weiter. Schiessl fiat in seinen Erinnerungen festgehalten, daß der Kabinettsdirektor kei­nen direkten Einfluß auf die Entschließungen des Kaisers hatte, daß „die­ser lediglich ein ausübendes Organ des Monarchen sein sollte und wohl in Gnadensachen Anträge stellen konnte, aber in Fragen der inneren oder äußeren Politik nicht mitzureden hatte“ 13S). In der Tat aber stand Schiessl wie sein Vorgänger dem Kaiser auch als Ratgeber zur Seite. Wie jener wurde auch er vom Kaiser mit geheimen Aufträgen, namentlich bei Regierungswechseln betraut. Aktenmäßige Niederschläge dieser lediglich mündlich erteilten und durchgeführten Aufträge lassen sich nur spärlich finden. Als ein Beispiel sei angeführt, daß der ehemalige Ministerpräsi­dent Max Vladimir Freiherr von Beck im November 1916 Franz Joseph durch Schiessl versichern ließ, daß der Ministerpräsident Dr. Koerber aus 136) Nachlaß Franz Freiherr von Schiessl, Erinnerungen, Ms., S. 182 f. und Schiessl in Steinitz, Erinnerungen an Franz Joseph, S. 357. Im Gegensatz hiezu gibt Schiessl in seinem Artikel „Kaiser Franz Josephs letzte Arbeitsstunde“ (Neues Wiener Journal 25. 12. 1931) als Datum der Audienz den 4. Dezember an, was wohl irrig ist. Vollständig anders schildert ein Nachruf „Kabinetts­direktor Dr. Schiessl“ in der Volkszeitung Nr. 72 vom 12. 3. 1932, der wohl mit der Zeit verwischte Erinnerungen eines Neffen Schiessls widergibt, den Ver­lauf der Audienz. 137) B 20 s in Sep. Bill. Prot, und Direktionsakt 10/1894, 660 corr/1899, Admin. Reg. F 46/341. iss) a. a. O., S. 182.

Next

/
Thumbnails
Contents