Walter Goldinger: Ergänzungsband 5. Geschichte des Österreichischen Archivwesens (1957)
Einleitung
Einleitung 3 einmal ein Berufsarchivar, Michael Mayr, das Amt des Bundeskanzlers, vorher schon das eines Staatssekretärs für die Vorbereitung der Verfassung, bekleidete. Die bleibende Gestalt der österreichischen Archive hatte sich aber schon seit der Jahrhundertwende immer stärker ausgeprägt, sie wurden zu Facharchiven, wissenschaftlichen Anstalten, die gleichzeitig in den Aufbau der öffentlichen Verwaltung eingefügt und in ihren Dienst gestellt sind. Ihre Tätigkeit auf dem Gebiete des Schutzes der Schriftdenkmäler sollte ihnen auch in breiteren Kreisen Verständnis und Wertschätzung sichern. Daran mangelt es sehr. Es wird eine schwierige Aufgabe für Lehrer und Volksbildner sein, einer durchaus ahistorisch denkenden Zeit, einem Volk, in dessen Bewußtsein nur mehr wenige Brücken zu seiner Vergangenheit führen, klarzumachen, daß Österreich nicht ein reines Museum Europas ist, sondern daß die österreichische Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen für jeden einzelnen auch heute noch ureigenstes Schicksal bedeutet. An der Formung des österreichischen Geschichtsbildes werden in Zukunft auch die Archive mitzuarbeiten haben. Grund genug, ihres Ursprunges zu gedenken und des Weges, den sie über Jahrhunderte hinweg beschritten haben. Nicht mit Unrecht hat man die Archive in ihrer Gesamtheit als das gute und das schlechte Gewissen der Welt bezeichnet4). Sie bewahren einen erheblichen Teil der Quellen, die dem geschichtlichen Bewußtsein eines Staates und eines Volkes die Grundfesten geben. Für den Fachmann, der Archivgeschichte schreiben will 5), werden die Archive selbst zur Quelle, die er einzuordnen hat in die Geschichte der Heimat, des Staates und des abendländischen Geistes. Kann überhaupt jemand dieser Aufgabe gewachsen sein? — Es gibt verheißungsvolle Beispiele dafür, wie etwa die bereits in dritter Auflage vorliegende Arbeit von I. Zibermayr über das Oberösterreichische Landesarchiv, die mehr als eine bloße Geschichte dieser Anstalt ist, die das hohe Ziel erreicht, in diesem Spiegel ein Bild des Schriftwesens und der Landesgeschichte zu zeigen 6). Man erkennt, wie hier das Individuelle, sozusagen der Persönlichkeitsgehalt einer bestimmten Anstalt, in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt ist. Wer es hingegen unternimmt, die Entwicklung des österreichischen Archiv wesens zu untersuchen, muß mit Typen arbeiten und wird 4) L. Santifaller beim Festakt anläßlich des 200jährigen Bestandes des Haus-, Hof, u. Staatsarchivs. Mitt. d. Österr. Staatsarc.his 2 (1949), 35. 5) Vgl. J. Prochno, Zur Archivgeschichtsschreibung. Archiv f. Kulturgeschichte 32 (1944), 288—293. 6) I. Zibermayr, Das oberösterreichische Landesarchiv in Linz im Bilde der Entwicklung des heimatlichen Schriftwesens und der Landesgeschichte 3 1950. 1*