Leo Santifaller: Ergänzungsband 2/1. Festschrift zur Feier des 200 jährigen Bestandes des HHStA 2 Bände (1949)

IV. Quellen und Quellenkunde - 44. Oskar Regele (Wien): Die Geschichtsschreibung im Wiener Kriegsarchiv von Kaiser Joseph II. (1779) bis zum Ende des ersten Weltkrieges (1918)

Geschichtsschreibung im Wiener Kriegsarchiv (1779—1918). 735 Noch schärfer drückt sich Rothkirch1) aus, der u. a. schreibt: „Die Geschichte ist ja keine Beispielsammlung zur Erläuterung und Bekräftigung einer Lehre, die, im Vor­beigehen gesagt, eine innere Gewißheit haben und nicht bloß durch Beispiele sich halten muß. Braucht man sie zu einem untergeordneten Zweck, so hört sie auf, Geschichte zu sein, sie wird dann ein Lehr- oder Erbauungsbuch, aber kein lebendiges Gemälde des menschlichen Treibens, kein klares Abbild eines verworrenen Urbildes. Nicht für Lehrlinge schreibt man Geschichte, sondern für Männer, deren Geist den Geist derselben zu begreifen vermag.“ Andere Historiker sind in dieser Beziehung wesentlich gemäßigter und sogar Bernheim 2), der bekanntlich praktische Tendenzen in den Wissenschaften eher verneint, billigt der Geschichtsdarstellung die erzieherischen Elemente der Belehrung und Erhebung zu: „Kraft ihrer innersten Eigenart erzieht somit unsere Wissenschaft das tiefe Bewußtsein von der erhaltenden Macht des Gemeingefühls, von der vernichtenden Gewalt des Egoismus ..., daß die historische Erkenntnis die stärkste wissenschaftliche Stütze des Gemeinsinnes ist.“ Hier ist ein sehr nützlicher Zweck der Geschichtsschreibung offenkundig anerkannt. Schels 3) und Streffleur4), zwei der namhaftesten Redakteure der „Österreichischen Militärischen Zeit­schrift“, sehen im Lehren und Erbauen (Schels) und in der belehrenden Wirkung (Streffleur) den Hauptzweck der Geschichtsschreibung, der ihre Zeitschrift fast zur Gänze geweiht war. Für die amtliche Geschichtsschreibung war der lehrhafte Zweck natürlich von Haus aus gegeben, denn es galt vor allem, der Armee die neuesten Erfahrungen geschichtlicher Forschung zu vermitteln. So lesen wir im Programm der „Mitteilungen des k. k. Kriegs­archivs“ (Wien 1876): „Die bezüglichen Arbeiten sollen der Armee militärisch-historisch, archivalisch, kartographisch und bibliographisch Interessantes bieten . . . sollen getragen sein von dem Streben, die Armee mit ihrer ruhmreichen Vergangenheit vertraut zu machen, ihr .................erhebende Momente ihrer Geschichte vorzuführen, und anzukämpfen gegen j ene pessimistischen Anschauungen, die von Außen ... so schnell sich verbreiten . . . sollen . . . die historischen Anschauungen auf wahre Bahnen gelenkt ......... werden.“ (S. 3.) Die „ Dienstvorschrift für das k. u. k. Kriegsarchiv“ vom Jahre 1899 sagt im Punkt 64: „Die stoffliche Gliederung einer jeden Arbeit ist abhängig von dem Zweck der Publikation, wie sich auch die Schreib- und Darstellungsweise der Absicht anpassen muß, welche mit dem Werke verfolgt wird.“ Der lehrhafte Zweck ist ja auch anderen wissenschaftlichen Arbeiten nicht fremd, welches Wissensgebiet immer man hier in Betracht ziehen mag. Scharf und ebenso schwer zu unterscheiden vom lehrhaften Zweck bleibt die Tendenz, Vergangenes aus politischen Gründen umzudeuten, d.h.die Lehrhaftigkeit auf nicht stichhältigen Unterlagen aufzubauen. Was nun die Rücksichtnahmen betrifft, sind diese in der Kriegsgeschichtsschreibung vorzugsweise von psychologisch-politischen Erwägungen diktiert. Die Wehrmacht ist ein neuralgischer Punkt, ein noli me tangere des Staates, eines der vielen Imponderabilien der Geschichte. Als Repräsentant von Staat und Volk verlangt sie guten Ruf, unbestrittenes Ansehen und Geltungskraft, denn sie ist zugleich ein internationaler Wertmesser für den Staat. Als Moltke aufgefordert wurde, die Geschichte des Krieges 1870/71 zu schreiben, bemerkte er5): „Was in einer Kriegsgeschichte publiziert wird, ist stets nach dem Erfolg appretiert; aber es ist eine Pflicht der Pietät und der Vaterlandsliebe, gewisse Prestigen nicht zu zerstören, welche die Siege unserer Armee an bestimmte Persönlichkeiten knüpfen.“ Nach dem Kriege von 1866 sandte General La Marmora seine Denkwürdigkeiten dem *) „Wie soll man Kriegsgeschichte schreiben?“ in ÖMZ.-II-l, Wien 1835. 2) „Lehrbuch___S. 151, 155 f und 156. 3 ) „Über Geschichte, besonders Kriegsgeschichte, ihre Quellen und Hilfswissenschaften“ inÖMZ.-1835. 4) „Über die Darstellung kriegsgeschichtlicher Begebenheiten überhaupt und insbesondere für Militär- Zeitschriften“ in ÖMZ.-1860, 1-1, S. 331 f. 5) „Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten des General-FM. Grafen Helmuth von Moltke“, Berlin 1891/93, Bd. 3, S. X.

Next

/
Thumbnails
Contents