Leo Santifaller: Ergänzungsband 2/1. Festschrift zur Feier des 200 jährigen Bestandes des HHStA 2 Bände (1949)
I. Archiv-Wissenschaften - 3. Dyonis Jánossy (Budapest): Das Archivgesetz in Ungarn
Archivgesetz in Ungarn. 15 als königliche Behörden in den Wirkungskreis des Herrschers gehörten J). Erst nach dem Jahre 1848, d. h. nach Einführung des Ministerialsystems, bzw. nach dem im Jahre 1867 erfolgten Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn, wurde das Problem der Bestände der vormaligen Dikasterialbehörden aktuell, weil sie für die laufende neue Geschäftsführung nicht mehr notwendig waren. Nach Aufhören des Ständestaates in der Mitte des 19. Jahrhunderts hörten das Archivum Regnicolare, die Dikasterialregistraturen, die glaubwürdigen Orte, sowie auch die Komitats- und Städtearchive, ferner die Privatarchive auf, rechtskräftige Quellen zu sein, daher wechselte auch die frühere Rechtsauffassung, welche eine Zugänglichmachung der genannten Archive als eine Preisgabe der spezifischen juridischen Interessen betrachtete 2). Diese radikale Änderung, welche sich in der Rechtsauffassung äußerte, hatte hauptsächlich in den Komitats-, Städte- und Gemeindearchiven verheerende Wirkungen zur Folge. Die Bestände aus der Zeit des Ständestaates wurden zu Zwecken von Packpapier für Geschäftsleute abgetreten oder aber auf den Dachböden der Komitatsgebäude aufgestapelt, wo dieselben dem sicheren Verlust preisgegeben waren. Daß diese wertvollen Quellen der Lokal- und Territorialgeschichtsschreibung nicht völlig zugrunde gingen, war dem stets zunehmenden historischen Sinn breiter Kreise der öffentlichen Meinung zu verdanken, welche sich über die Verheerungen der Archivbestände durch die Tagespresse mit Entrüstung Kenntnis verschaffte. Zur selben Zeit war in der ungarischen Geschichtsschreibung der Positivismus zur Geltung gekommen, demzufolge eine namhafte Literatur von Aktenpublikationen entstand. Diese Forscher lieferten ihre verblüffenden Erlebnisse an die Presse über die klägliche Lage der verheerten Archive und schritten für einen wirksamen Archivschutz ein. Durch diese Ereignisse bewogen, befaßte sich die historische Klasse der Ungarischen Akademie der Wissenschaften3) zuerst im Jahre 1867 mit den dringenden Problemen einer umfassenden Regelung des ungarischen Archivwesens. Als ersten Schritt zu dieser Regelung erachtete man die Notwendigkeit der Errichtung eines Staatsarchivs, welcher Antrag durch die Gesetzgebung im Jahre 1871 angenommen wurde. Nach vielen kommissionellenBeratungen entstand jedoch erst im Jahre 1874 dieses Zentralarchiv, welches das Archivum Regnicolare, ferner die Bestände der im Jahre 1867 aufgelösten Zentralbehörden des früheren Ständestaates und der absoluten Zentralgewalt der fünfziger Jahre zur Aufbewahrung übernahm. Zur Zeit seiner Errichtung war das Staatsarchiv dem Ministerium des Innern unterstellt und waren alle seine Bestände mit gewissen Beschränkungen der Forschung zugänglich gemacht. Um dem wissenschaftlichen Charakter der Anstalt gehörigen Nachdruck zu geben, wurde es im Jahre 1922 dem Kultus- und Unterrichtsministerium untergeordnet und in die sogenannte Gemeinschaft der Ungarischen Wissenschaftlichen Sammlungen einverleibt. Obzwar gegen diese letztere Verfügung die Fachkreise ihr Bedenken äußerten, weil sie eine wissenschaftliche und administrative Verbindung des Staatsarchivs mit den großen Zentralmuseen der Hauptstadt bedeutete, welche in ihren wissenschaftlichen Zielsetzungen und in ihrem organischen Aufbau vom Staatsarchiv verschiedenen Richtungen zu folgen hatten, blieb jedoch der Gedanke wach und rege, daß nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie im Kleinstaat Ungarn die wissenschaftlichen Anstalten hauptsächlich wegen rationeller Rücksichten gemeinschaftlich zielbewußter administriert werden können. Diese Regulierung wurde im Jahre 1934 mit dem Gesetzartikel VIII in dem Sinne neu formuliert, daß die Gemeinschaft der Wissenschaftlichen Sammlungen ihre Benennung künftighin als „Ungarisches Nationalmuseum“ zu ändern hatte. Zweifellos war bei dieser Verfügung die Auffassung vorherrschend, daß das Musealprinzip mehr zum Ausdruck gebracht werde, da eben die Mehrzahl der in der Gemeinschaft *) Cf. Kossányi Béla, op. cit. pag. 3. 2) Szabó István, op. cit. pag. 8—9. 3) Miskolczy Gyula, Die Errichtung des Staatsarchivs, Archiv. Mitteilungen, Budapest, 1923, pag. 8.