Evangelischen obergymnasiums, Bistritz, 1871
5 Die Menschenbildung geht von Innen vor sich durch die Aneignung oder Ablehnung des von Außen gebotenen Stoffes. Der Jugendbildner hat daher nicht nur die Aufgabe das Menschenbild zu gestalten, wie es seinem Geiste vorschwebt, sondern auch das Kind, den Stoff selbst erst willig zu machen und die Lust und Neigung in ihm zu wecken und zu stärken, daß es selbst gebildet zu werden wünsche. Diese Thätigkeit des Bildens nun ist Bildung. Mit Bildung bezeichnen wir aber auch das, was durch das Bilden geworden und erreicht ist. Jeder, der aus einem rohen Zustande heraus zu einer gewissen Vollkommenheit gelangt ist, legt sich Bildung bei. Darum sprechen wir sie Kindern ab. Sie sollen erst gebildet werden oder sind in der Bildung begriffen. Aber wenn auch Bildung, gegenüber der Rohheit etwas Abgeschlossenes ist, so ist sie doch keineswegs abgeschlossen. Es gehört gerade zu den Kennzeichen der Gebildeten, das Bestreben sich unablässig weiter zu bilden, Bescheidenheit wo es die eigene Bildung gilt, willige Anerkennung der fremden. Bildung oder Entwicklung und Ausgestaltung des Menschen zu einer gewissen Vollkommenheit muß.erzielt werden unter sorglichster Beachtung der einem jeden Schüler verliehenen Kräfte und Fähigkeiten des Denkens, des Empfindens und des Wollens. Denken und Gedanken allein' machen nicht die Bildung, so wenig als Empfinden und Wollen. Die ausschließliche Entwickelung einer Seelenthätigkeit ist krankhaft, ist Mißbildung. So leidet unter Ueberspannung der Denkkrast oft genug der sittliche Wille, der Charakter.*) Wo das Denken nicht vom Witten gelenkt und der« Witte nicht beständig durch Thätigkeit im Leben geübt wird, an der er sein Maß und das Denken seinen Zweck findet, da mag viel Wissen und Gelehrsamkeit sein, aber Bildung ist wenig. Nicht die Gelehrten sind überall die Leitenden, sondern die Gebildeten, die ganzen und vollen Menschen, die Charaktere in denen Denken, Empfinden, Wollen und Handeln gleichmäßig befriedigen. Charaktere könnten selbst die Gelehrsamkeit entbehren, wenn sie dieselbe nur in ihren Dienst zu nehmen verstehen. Nicht das Wissen allein bedingt den Werth des Menschen und die wachsende Erkenntniß ist nicht nothwendig mit dem kräftigen Wollen und Handeln verbunden. An Gelehrten hat es Deutschland nie gefehlt, wohl aber an Gebildeten und Charakteren. Ohne Gelehrsamkeit ist Rom groß und mächtig geworden, mit Gelehrsamkeit ist es allmählich gesunken. Wissen und namentlich gelehrtes Wissen sind also nicht dasselbe mit Bildung. Die Bildung erfordert Wissen, ist aber damit noch nicht erschöpft. *) Wie oft sind Gelehrte und Denker erbärmliche ja schmutzige Charaktere, z. B. Baco, Voltaire.