Evangelischen gymnasiums, Bistritz, 1862
10 Sehen wir also zunächst auf Deutschland. Als die alten Völker, in ihrer geistigen Thätigkeit erschlafft, aufhör ten die Träger und Bildner der Wissenschaft zu sein, trat als Erbe ihrer Kultur Deutschland ein. Hieher retteten sich die Wissenschaften und fanden mütterliche Liebe, welche sie aufnahm und pflegte. Zwar trat auch hier die Rohheit der Zeit ihnen oft feindlich entgegen; zwar folgt auch in Deutschland auf die bekannte Blüthe der Schulen unter Karl dem Großen ein s$culum obscurum: aber auch in diesen unseligen Zeiten wird die Wissenschaft nicht ganz vernachlässigt sondern, wenn auch nur von wenigen, liebevoll gepflegt, wie wir dieses sehen können an der Gelehrsamkeit jener Nonne Roswitha *), welche das Leben der erhabenen Kaiserfamilie der Ottonen in lateinischen Versen schrieb. Ich brauche nur jenen berühmten Lehrer des Kaisers Otto III., Gerbert, zu erwähnen, um zu beweisen, daß es dem Mittelalter an Bildung und Wissenschaft durchaus nicht gefehlt hat. Und daß namentlich die Sprachenkenntniß nicht gerade eine untergeordnete Stellung einnahm, dafür zeugen uns die Vertreter der Scholastik. Aber, und das gilt namentlich von dieser Scholastik, die sprachliche Bildung war auf einen falschen Weg gerathen. Denn man betrachtete sie nur als Mittel zum Zweck. Die Scholastiker sind wohl bekannt mit den Werken der Klassischen Welt; aber sie gelten ihnen nur die theologische Wissenschaft tiefer zu begründen..Das Studium derselben wird unter ihren Händen gleichsam der Handlanger, welcher zum Aufbau des großartigen Sy- stemes der Theologie die Bausteine liefern muß. Nur zu diesem Zwecke studirt man die Klassiker und besonders die Werke des viel verschrieenen, von der Kirche oft verketzerten und verdammten Aristoteles, nur in dieser Absicht werden sie auch auf den Schulen gelehrt. Aber das Studium der alten Sprachen hat eine viel tiefer eingreifende Bestimmung als die, wozu sie die Zeit der Scholastik machte. Es ist eben nicht darauf angelegt, die Schleppträgerin der Theologie zu sein. Und wenn die Sprachen, wie alle andern Wissenschaften, durch die Systeme berühmter Männer dazu geworden waren, so folgte auf diese Meister gar bald ein Verfall ihrer Schulen, wie dieses ja mit jedem Systeme der Fall ist. An ihren Verfall knüpft sich aber ein neues Element der Entwickelung. Man fing an einzusehen, daß die gegebene Stellung der Sprachen eine ihres bildenden Elementes unwürdige sei. Sollte dieses nicht völlig vernichtet werden, sollten sie, um seinetwillen aus ihrer verachteten Stellung herausgerisscn und. so nutzbrin*) F. Schlosser: Weltgeschichte für das deutsche Volk, VI. S. 168.