Architektur zwischen Kunst und Bürokratie - 125 Jahre Ringstraße

5. Lorenz Mikoletzky, Das Parlament

Der heutige Sitz des National- und Bundesrates, nach großen Kriegsschäden (1945) bis 1956 wieder restauriert, gehört nach wie vor in seiner baulichen Demonstration von Einheit in Vielheit sowie umgekehrt von Vielheit in Einheit — wie dies der Situation des Vielvölkerstaates zur Zeit der Erbauung entsprach- zu den bedeutendsten Architekturleistungen im Bereich der Ringstraße. Die zweigeschossige Anlage (mit erhöhten Flügelbauten und vier pavillonartig vorspringenden Eckrisaliten) (Kat. Nr. 5/6) scheint auf einem Hügel zu liegen, eine Ansicht, die durch die vorgebaute Rampe dem Betrachter suggeriert wird. Rechts und links befinden sich annähernd würfelförmige Saalbauten, zwischen denen sich ein langgezogener Giebelbau erstreckt, und die mehrere Höfe umschließen. Der Mittelrisalit wird nicht nur durch die doppelläufige Auf­fahrtsrampe sondern auch einen achtsäuligen Portikus betont. Die Flügelbau­ten besitzen zum Schmerlingplatz bzw. zum Rathausplatz hin Mittelrisalite mit Korenvorhallen (Erinnerungen Hansens an das Erechteion in Athen). Das gesamte Hauptgeschoß verfügt über korinthische Säulen- und Pilasterordnun­gen. Mit der Plazierung griechischer Geschichtsschreiber (Thukydides, Xeno­phon, Herodot und Polybios) auf der linken Seite und ihrer römischen „Kolle­gen“ (Livius, Tacitus, Sallust und Caesar) auf der rechten Seite der Rampe, wollte Hansen, sein figürliches Programm für den Parlamentsbau durchfüh­rend, den Abgeordneten beider Häuser bewußt machen, daß Ihre Tätigkeit auch von den Historikern beurteilt würde. Ist schon dieser Aufgang ein Mei­sterstück, wozu selbstverständlich die den Portikus bekrönende Attika, die Franz Joseph als römischen Imperator zeigt, wie er die Kronländer gleichsam einlädt, mit ihm zu regieren, gehört, so sind es erst recht die auf den Saalbauten aufgesetzten, aus Bronze gegossenen, acht Quadrigen. Die Symbolik der sehr reich mit figuralem Schmuck ausgestatteten Attiken wird durch Marmorstatu­en und Reliefs, die berühmte Männer des Altertums und ihre Taten darstellen, ergänzt. Diese Arbeiten wurden auch nach Hansens Ideen von verschiedensten Plastikern der „Ringstraßenära“ ausgeführt, unter anderem von Richard Kauf­fungen, Victor Tilgner, Edmund Hellmer und Hugo Härdtl. Auch im Inneren des Gebäudes wurde nicht an Ideen und glanzvoller Ausführung gespart, weder bei der großen Säulenhalle (40 x 23 Meter, mit 24 korinthischen Säu­len), noch bei den Empfangssalons, den Sitzungssälen beider Häuser sowie den verschiedenen Vestibülen mit den zahlreichen Skulpturen (Städten und Flüs­sen der Monarchie, Allegorien der einzelnen Ministerien, aber auch Büsten von Politikern) und den mannigfachen Friesgemälden. Theophil Hansen hatte den griechischen Stil gewählt, da dessen einfache, reine Formen und schönen, edlen Verhältnisse, die sich durch Jahrtausende bewährt hätten, „die Bürgschaften in sich tragen, über alle kommenden Ge­schmacksveränderungen und Stilverwirrungen erhaben zu bleiben, weil zu einem Parlamentshaus nur ein Stil, in welchem jede Subjektivität ausgeschlos­sen scheint, würdig genug ist“. Von Anfang an waren Wien und seine Bevölke­rung von diesem „Reichsraths-Bau“ begeistert, auf den auch verschiedenste Verse gemacht wurden, darunter eine „Dichtung“ aus dem Jahr 1890: 42

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